Im Gespräch mit Rainer Hilger (Lehrer) und Stefan Mertes (Schüler/ Absolvent)

Immer wieder sind Chöre und Musikvereine, auch in Ostbelgien, auf der Suche nach einem Dirigenten oder einer Dirigentin. Unter anderem Anzeigen auch in dieser Verbandszeitschrift zeugen von einem gewissen Bedarf. Die Musikakademie der Deutschsprachigen Gemeinschaft bietet seit dem Schuljahr 2007/2008 für künftige Dirigenten eine professionelle Ausbildung an. Wir unterhielten uns mit Rainer Hilger, der diesen Unterricht erteilt, sowie mit Stefan Mertes, der im Juni die Abschlussprüfung im Fach Dirigieren absolvieren wird.

Bevor die Akademie das Unterrichtsfach „Chor- und Harmonieorchesterdirektion“ eingeführt hat, waren Kurse des Musikverbandes Födekam die einzige Möglichkeit, sich in Ostbelgien als Chor- oder Orchesterleiter aus- oder weiterbilden zu lassen. Unter anderem auf Bitte unseres Verbandes erhielt das Fach Direktion in der Musikakademie eine professionelle Struktur und durch die Lehrer Gerhard Sporken (bis zum Schuljahr 2021-2022) und Rainer Hilger einen völlig neuen Stellenwert.

Die Ausbildung zum Dirigenten dauert an der Musikakademie vier Jahre. Der praktische Inhalt besteht aus Dirigierübungen, bei denen die Dirigiertechnik im Vordergrund steht: Wie schlägt man die unterschiedlichen Taktarten? Wie zeigt der Dirigent Auftakte, Abschläge oder Fermaten an? Wie vermittelt er den Musikern oder Sängern die Dynamiken, die Artikulationen, die Phrasierungen usw.? Außerdem wird in dem Unterricht auf das Repertoire unterschiedlicher Stile und Epochen eingegangen.

Grundsätzlich ist das Fach Direktion an der Akademie Einzelunterricht, der wöchentlich während einer halben Stunde erteilt wird. Für Schüler der gleichen Stufe oder des gleichen Niveaus werden gelegentlich aber auch Gruppenunterrichte organisiert, die wegen des Austauschs über Techniken und Erfahrungen besonders interessant sein können.

Födekam: Ist Dirigentenunterricht vor allem Theorie oder auch Praxis?

Rainer Hilger: Es ist beides gleichermaßen. Es werden viele Inhalte erarbeitet wie z.B. die Schlagtechnik, Probenvorbereitung und -gestaltung, Instrumentenlehre, Repertoire, unterschiedliche Besetzungsformen, Aufstellung des Orchesters/Chores. Der Unterricht an sich besteht jedoch vor allem zu Beginn aus Schlagtechnik. Die Schüler müssen ein Gefühl für die Bewegungsabläufe entwickeln. Die theoretischen Inhalte können außerhalb des Unterrichtes gelernt werden.

Födekam: Gibt es auch Praktika? Und Prüfungen?

Rainer Hilger: Am Ende eines jeden Schuljahres gibt es eine praktische Klassenprüfung. Wir versuchen auch regelmäßig, mit Vereinen zusammenzuarbeiten, bei denen die Schüler Erfahrungen in der Praxis sammeln können. Das kann eine einmalige Probe sein, bei der jeder Schüler mit einem bestimmten Orchester arbeiten kann. Im dritten Ausbildungsjahr findet dann ein Praktikum statt, bei dem die Schüler idealerweise über mehrere Wochen mit einem Verein arbeiten sollten.

In den letzten beiden Jahren sind wir nicht aktiv auf die Vereine zugegangen, da diese doch sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Deshalb haben wir im Juni 2022 ein eigenes Orchester von rund 40 Musikern zusammengestellt und an einem Samstagnachmittag den Schülern die Möglichkeit geboten, mit diesem Orchester zu arbeiten. Wir versuchen auch, innerhalb der Musikakademie kleine Ensembles zusammenzustellen und mit diesen die Praxis unserer Dirigentenschüler zu erarbeiten. Die Schüler konnten z.B. im letzten Schuljahr mit dem Klarinettenchor „Zephyros“ arbeiten. Im kommenden Juni werden sie die Fanfare „Musica Nova“ besuchen, die Besetzungsform einer Fanfare kennenlernen und auch mit diesem Orchester arbeiten dürfen.

Auch im Fach Chorleitung konnten die Schüler Erfahrungen mit einem kleinen Ensemble sammeln, das speziell für diesen Anlass zusammengestellt wurde. Ich habe auch eine Probe ihres Chores besucht und ihre Probearbeit beobachtet.

Födekam: Welche Voraussetzungen müssen Schüler mitbringen, um die Dirigentenausbildung beginnen zu können?

Rainer Hilger: Bevor ein Schüler die Ausbildung starten kann, findet ein Gespräch mit Direktor Luc Marly und mir über Motivation und Eignung des Schülers statt. Als Vorkenntnisse sollte ein Schüler u.a. die Perfektionierungsstufe der Musikerziehung sowie den Unterricht der Harmonielehre absolviert haben oder belegen. Für Schüler im Fach Chorleitung kommt noch Gesangs- und Klavierunterricht hinzu.

Födekam: Inwieweit kann man Dirigieren lernen und inwieweit ist es Talent oder Begabung?

Rainer Hilger: Eine gewisse Veranlagung benötigt man sicherlich. Zuerst ist da die Bereitschaft nötig, sich vor ein Ensemble zu stellen, eine Gruppe von Musikern zu leiten und Verantwortung zu übernehmen.

Das Orchester oder der Chor ist das „Instrument“ des Dirigenten. Aber im Gegensatz zu einem Trompeter oder Klarinettisten hat ein Dirigent natürlich zuhause nie und auch im Unterricht nur selten die Möglichkeit, tatsächlich mit diesem „Instrument“ zu arbeiten. Daher ist für die Schüler jede Gelegenheit, vor einem Chor, einem Orchester oder einer Gruppe Musiker zu stehen, von großer Bedeutung.

Bei der Vorbereitung einer Probe stellt sich der Dirigent vor, wie er die Musik gerne hören möchte (Tempo, Klang, Ausdruck, usw.), also gewissermaßen seine Interpretation der Musik. Die Kunst ist es dann, dies den Musikern in der Probe zu vermitteln. Ein Dirigent muss aber auch auf das eingehen, was ihm der Chor oder das Orchester anbietet. Das ist immer der Ausgangspunkt, dann beginnt er, an allen Parametern zu arbeiten.

Beim Erlernen der Partitur sieht der erfahrene Dirigent schon vorab, welche Schwierigkeiten auftreten könnten. Er denkt sich eine oder mehrere Strategien aus, wie er die Probleme lösen möchte. Es ist also äußerst wichtig, als Dirigent gut vorbereitet in eine Probe zu gehen. Andererseits muss ein Dirigent auch spontan und flexibel auf Situationen reagieren können, die sich bei der Probearbeit ergeben.

Födekam: Was braucht ein guter Musiker, um Dirigent zu werden?

Rainer Hilger: Ein Dirigent sollte natürlich die notwendigen musikalischen Fähigkeiten mitbringen, wie z.B. ein gutes Gefühl für Rhythmus oder ein gutes Gehör. Er muss die Details beachten, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Eine gute Zeiteinteilung ist ebenfalls wichtig. Ein Dirigent muss vor allem auch offen sein, an sich selbst zu arbeiten und sich ständig weiterzuentwickeln. Er sollte gut beobachten können, da man Vieles lernen kann, wenn man andere Dirigenten beobachtet.

Födekam: Wie wichtig sind Menschenkenntnis und Empathie/Sympathie für einen Dirigenten?

Rainer Hilger: Dirigieren hat vor allem mit gegenseitigem Vertrauen zwischen Dirigent und Musikern zu tun. Der Dirigent sollte Führungsqualitäten und einen respektvollen Umgang mit seinen Sängern oder Musikern haben. Die Zeiten, wo der Dirigent seine Musiker von oben herab zurechtwies, sind glücklicherweise vorbei. Eine positive Autorität sollte ein Dirigent aber auf jeden Fall mitbringen. Und er sollte bestrebt sein, ein gutes Arbeitsklima zum gemeinsamen Singen oder Musizieren zu schaffen.

Födekam: Wie schätzen Sie die Lage der ostbelgischen Chöre und Musikvereine aktuell in Bezug auf Dirigenten ein? Gibt es Dirigentenmangel?

Rainer Hilger: Ich denke schon, dass noch Bedarf an Dirigenten besteht. Ich werde zum Beispiel regelmäßig von Vereinen kontaktiert, die auf der Suche nach einem Dirigenten sind.

Födekam: Wie viele Schüler gibt es im Fach Direktion an der Akademie aktuell?

Rainer Hilger: Es sind aktuell sechs Schüler, fünf in Orchesterleitung und eine Schülerin in Chorleitung. Stefan Mertes wird seine Ausbildung in Orchesterleitung am Samstag, 10. Juni, mit der Abschlussprüfung beenden. Bei einem Konzert der Kgl. Harmonie Hergenrath (um 20 Uhr im Eupen Plaza) wird er das Orchester bei einigen Werken leiten. Zu diesem Konzert sind natürlich alle herzlich eingeladen.

Födekam: Stefan Mertes, stellen Sie sich doch bitte kurz vor!

Stefan Mertes: Ich wohne in Halenfeld, bin 23 Jahre alt und spiele schon seit 14 Jahren Trompete. Auch bin ich in einigen Vereinen aktiv: Musikverein Heppenbach (Trompete + Vorstandsmitglied), Gesangverein Heppenbach (Sänger), Uncle Mike’s Big Band (Trompete), Karnevalsband „De Six Pack“ (Sänger und Trompete), Musikverein Montenau (Dirigent seit Januar, abwechselnd mit Manu Fernandez). An der Akademie habe ich die Notenlehre (7 Jahre) sowie das Fach Trompete (10 Jahre)  und die Harmonielehre abgeschlossen. Ich bin im vierten und letzten Jahr des Dirigierunterrichts und lerne zudem seit vier Jahren Gitarre. Ich habe u.a. an den Jubiläumskonzerten der Akademie (40 Jahre + 50 Jahre Musikakademie sowie an zahlreichen Projekten des Musikverbandes Födekam (u.a. Vocal Project und Play-Ins) teilgenommen. Im September will ich in Namur ein Musikstudium beginnen. 

Födekam: Wie empfinden Sie den Dirigierunterricht an der Musikakademie?

Stefan Mertes: Ich hatte das Glück, sowohl mit Gerhard Sporken als auch mit Rainer Hilger Unterricht zu haben. Bei beiden habe ich sehr viel gelernt. Ich hatte oft Einzelunterricht, aber auch gemeinsamen Unterricht zu zweit oder zu dritt. Beides habe ich als gut und bereichernd empfunden. Neben der individuellen Arbeit im Einzelunterricht lernt man im Gruppenunterricht auch von den anderen, beobachtet und schaut sich gewisse Dinge ab oder man sagt sich selbst „so würde ich das nie machen“. Ich hatte im Rahmen des Unterrichts mehrfach die Möglichkeit, ein Ensemble zu leiten - bestehende Vereine oder eigens zu diesem Zweck zusammengestellte Ensemble/Orchester jeglicher Art. Dies ist wichtig, da man vor allem Praxis braucht, aber in den Anfangsjahren als Dirigent noch nicht immer einen festen Verein leiten kann. In meinen Augen wäre es wünschenswert, sogar noch mehr praktisch zu arbeiten, gerne auch bei Konzerten während des Schuljahres der Musikakademie mit kleineren Ensembles oder sogar mit einem Orchester – wobei mir natürlich klar ist, dass das nicht leicht zu organisieren ist.